Jeder fordert die effiziente 80% Lösung. Aber: was ist das eigentlich?

Der Kosten- und Termindruck nimmt stetig zu. Dies führt unter anderem dazu, dass der Ruf nach der 80% Lösung (die mit 20% des Aufwandes erledigt werden soll) immer lauter wird. Die spannende Frage für den Ingenieur ist aber, was ist eigentlich eine 80% Lösung?

Der Hintergrund – Das Paretoprinzip:

Unter dem Pareto-Prinzip (alternativ auch 80-20 Regel genannt) versteht man die Annahme, dass 80 % der Ergebnisse einer Aufgabe mit 20 % des möglichen Aufwandes erzielt werden können. Um die letzten 20 % der möglichen Ergebnisse zu erzielen, muss mit 80 % des möglichen Aufwandes gerechnet werden.

Was steckt dahinter?

Anfang des 20. Jahrhunderts untersuchte Vilfredo Pareto die Verteilung des Bodenbesitzes in Italien. Er kam dabei zu der Erkenntnis, dass sich 80% des Bodens in den Händen von 20% der Bevölkerung befanden. Diese Erkenntnis wird heute vielfach auf andere Phänomene übertragen.

Ein Beispiel

Ein klassisches Beispiel aus dem Studium: um bei einer Klausur die Note 2,0 zu erreichen (wir nehmen an, dass dies die 80% Lösung ist) sind 20 % des möglichen Lernaufwandes nötig. Der Schritt von einer 2,0 auf die 1,0 (die 100% Lösung) ist ein deutlich größerer Aufwand nötig. Für eine Bewerbung ist es in den allermeisten Fällen ist es besser, in möglichst vielen Fächern eine 2,0 zu erreichen, als in wenigen eine 1,0 und dafür in vielen Fächern eine 4,0 akzeptieren zu müssen, da der Aufwand für zum Erreichen der 1,0 so groß war.

Dahinter stecken zwei Chancen.

Zum Einen können nach dieser Theorie mit demselben Aufwand mehrere Aufgaben gut abgeschlossen werden, als nur eine Aufgabe sehr gut. Das ermöglicht beispielsweise eine Optimierung des Designs, da jetzt mehrere Designvarianten mit demselben Aufwand ausgelegt werden können wie bisher nur eine.

Zum Anderen bietet sich auch die Chance Fehler zu vermeiden. Denn oftmals ist eine perfekte Lösung weder möglich noch sinnvoll. Ein Beispiel: um ein Bauteil betriebsfest auszulegen muss die Wöhlerlinie bekannt sein und der Beanspruchung gegenübergestellt werden. Auf Grund von Chargeneinflüssen streut die Wöhlerlinie. Diese Streuungen zu ermitteln ist experimentell enorm aufwändig (vgl. folgenden Artikel zum Stichprobeneinfluss). Besser und robuster können diese Streuungen aus Erfahrungswerten abgeschätzt werden (in unserem neuen Buch Statistik der Betriebsfestigkeit - schnell verstehen & anwenden finden Sie die Hintergründe dazu erläutert). Das ist in diesem Fall die 80% Lösung. Die dann zur Verfügung stehende Kapazität kann in die Ermittlung der Lasten fließen, da dies erfahrungsgemäß die größte Unsicherheit bei der Auslegung darstellt. Somit lassen sich Fehler bei der Lastannahme vermeiden oder minimieren.

Das Risiko liegt darin, dass aus den verbleibenden 20 % ein Fehler resultiert, der beispielsweise in ein Versagen des Bauteils (worst case) oder eine Überdimensionierung führt.

Die Abwägung zwischen Chance und Risiko liegt dabei in der Hand des Ingenieurs. Dazu ein paar Gedanken:

Großartig vs. Perfekt

Als Ingenieure suchen wir immer nach Lösungen, die so robust sind, dass der Kunde von der Qualität begeistert ist. Streben wir deswegen eine perfekte oder eine großartige Lösung an? Und was ist der Unterschied?

Eine Großartige Lösung kann die 80% Lösung sein. Eine Lösung ist dann großartig, wenn sie den Kunden begeistert. Der größte Feind einer großartigen Lösung ist das Streben nach der perfekten (100%) Lösung. Warum?
Weil uns der hohe Aufwand zum Erreichen perfekten Lösung und der Respekt vor kleinen Makeln oder Fehlern im schlimmsten Fall so sehr hemmt, dass wir gar nicht erst mit dem Bearbeiten der Aufgabe beginnen, oder die Aufgabe nicht abgeschlossen wird.

Konkret: Oftmals ist eine der größten Unsicherheiten bei der Bauteilauslegung die Lastannahme. Diese Lastannahme ist wie der Name sagt, eine Annahme, die mit Unsicherheiten behaftet ist und niemals vollständig richtig bestimmt werden kann. Hier ist eine perfekte Lösung nicht möglich. Im schlimmsten Fall trauen wir uns nicht, die Belastung auf das Produkt abzuschätzen, wegen des Risikos einen Fehler zu machen. Das Argument lautet dann, erst wenn wir gemessen haben, trauen wir uns eine Aussage zu. Allerdings ist eine Messung gleich keine Messung. Es müssen somit mindestens 20 sein. Da das Produkt aber an 10 Kunden verkauft wird, muss auch jedes Kundenmuster gemessen werden,… der Aufwand wird im schlimmsten Fall so groß, dass wir uns kaum zu beginnen trauen.

Im Gegensatz dazu können wir den Kunden evtl. dadurch begeistern, dass wir uns genau Gedanken machen, wie das Produkt belastet wird. Diese Überlegung wird durch eine Simulation untermauert und durch eine Messung eines ähnlichen Produktes aus der Vergangenheit flankiert. All diese Ergebnisse werden dann mit dem Kunde diskutiert und das weitere Vorgehen besprochen. Dies ist die großartige 80% Lösung, die begeistert.

Ein Beispiel:

Das Bild dieses Blogartikels zeigt die Kathedrale Sagrada Família in Barcelona. Das Bestreben eine perfekte Kirche zu bauen führte dazu, dass mit dem Bau 1882 begonnen wurde und dieser noch nicht abgeschlossen wurde. Dies zeigt, dass perfekte Lösungen möglich, aber extrem aufwändig sind.

Konkrete Themen

Für die betriebsfeste Bauteilauslegung bedeutet das auch, dass vorhandene Richtlinien konsequent genutzt werden (Link).  Insbesondere die FKM Richtlinie kann hier in sehr vielen Fällen für eine Bauteilauslegung helfen. Sie ist modern, aktuell und so aufgebaut, dass sie relativ einfach für jeden Ingenieur anwendbar ist. Es ist für die Standardwerkstoffe eine robuste Bauteilauslegung möglich. Sie ist die großartige 80% Lösung, nach der sich Bauteile nach dem Stand der Technik auslegen lassen. Für den statischen Nachweis beschreibt unser eBook die Vorgehensweise. Eine konsequente Anwendung der Richtlinie wird in vielen Fällen noch etliche Potenziale heben, damit Material einsparen, kosten senken und damit den Kunden begeistern können! (auch den internen Kunden – Ihre/n Vorgesetzte/n;))

Die 100% Lösung wäre in diesem Fall die Erarbeitung eines eigenen Festigkeitsnachweises für die eigenen Werkstoffe. Das ist möglich und in Sonderfällen auch sinnvoll. Jedoch mit einem enormen Aufwand im Vergleich zur Anwendung der Richtlinie verbunden. In diesem Fall muss der Aufwand den Ertrag unbedingt rechtfertigen. Beispiele dafür sind z.B. Werkstoffe oder Einsatzbedingungen, die nicht durch die Richtlinie abgedeckt werden, Bauteile die in hoher Stückzahl ausgelegt werden und bei denen Kostenpotenziale vermutet werden, oder Bauteile die sehr sicher ausgelegt werden sollen. 

Auf den Punkt

(großartige) 80% Lösungen

  • können den Kunden begeistern. In diesem Fall ist die Lösung großartig;)
  • ist im Falle der Betriebsfestigkeit die konsequente Anwendung z.B. der FKM-Richtlinie
  • Ermöglichen eine bessere Bauteilauslegung durch Optimierungen oder Bearbeitung anderer Aufgaben

(perfekte) 100% Lösungen

  • Sind überdurchschnittlich aufwändig
  • Lohnen sich nur in Ausnahmen.

Es gibt keine perfekten Produkte, keine perfekten Menschen, keine perfekten Manuskripte oder Berichte,…! Aber es gibt viele großartige Produkte, Menschen, Berichte,…!

Zielen Sie auf großartige Lösungen und Sie werden den Kunden begeistern.

 

Bildquelle: Pixabay (bearbeitet), Lizenz: CC0 1.0
Veröffentlicht in Betriebsfestigkeit, Lebensdauer, Statistik, Zuverlässigkeit und verschlagwortet mit , , , , .

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