Warum Bauteile quasi plötzlich kaputt gehen – eine werkstoffmechanische Erklärung

Die gemeine Seite der Betriebsfestigkeit ist, dass Bauteile nach einer gewissen unauffälligen Betreibsdauer quasi plötzlich und ohne Vorankündigung versagen können. Wir erklären die Ursache.

Bei quasi statischen Belastungen wird davon ausgegangen, dass Spannungen unterhalb der Streckgrenze zu Gitterdehnungen führen. Diese sind reversibel. D. h. es bei einer Entlastung kehrt der Werkstoff in den Ausgangszustand zurück. Eine Werkstoffschädigung findet nicht statt.

Treten Spannungen wiederholend auf, ist diese Annahme nicht mehr gerechtfertigt.

Zur Erklärung schauen wir uns das Werkstoffverhalten unter schwingender Beanspruchung an. Dieses wird ähnlich dem Zugversuch üblicherweise an zylindrischen, glatten und ungekerbten Proben ermittelt.

Im einfachsten Fall ist die schwingende Beanspruchung einstufig , d. h. es liegt eine konstante Mittelspannung und Spannungsamplitude vor. Die Spannung schwankt also zwischen einer festen Ober- und Unterspannung.

Werkstoffversuche können entweder spannungsgeregelt, d.h. mit konstanter Spannungsamplitude oder dehnungsgeregelt, also mit konstanter Dehnungsamplitude durchgeführt werden. Häufig sind die Spannungen bei Werkstoffversuche rein wechselnd aufgebracht (es ist also die Mittelspannung gleich null). Es wird der Versuch solange durchgeführt, bis entweder Werkstoffversagen eintritt oder der Versuch bei einer festgelegten Laufzeit abgebrochen wird. Die Anzahl der Schwingspiele N  bis zum Bruch bezeichnet man als Lebensdauer.

Während der Versuchsführung unterliegt der Werkstoff Verformungsvorgängen. Er kann entweder ver- oder entfestigen, als auch zyklisch stabil sein. Deutlich wird dies, wenn während des Versuches der Spannungs-Dehnungsverlauf aufgezeichnet wird (siehe Abbildung).

entfestigung_verfestigung

Bildung eines Ermüdungsrisses

Diese Ver- und Entfestigungsvorgänge führen zur Werkstoffschädigung und einer Änderung des Werkstoffverhaltens. Nach einer gewissen Zeit ist keine weitere Verformungsänderung mehr messbar. In diesem Fall spricht man von zyklisch stabilem Werkstoffverhalten.

Diese Verformungsvorgänge finden bereits für sich wiederholende Spannungen unterhalb der Streckgrenze statt. Das bedeutet, dass sich wiederholende Spannungen unterhalb der Streckgrenze zu plastischen Verformungen führen können, die für den Werkstoff schädigend wirken.

Die Ursache findet sich bei einem tieferen Blick in den Werkstoff. Bei mikroskopischer Betrachtung des Werkstoffes können Spannungen, die auf makroskopischer Ebene elastisches Materialverhalten bewirken, auf mikroskopischer Ebene bereits zu Plastifizierungen führen. Ursächlich für diese Plastifizierungen sind Abgleitungen durch Versetzungsbewegungen. Treten diese Versetzungen an der Bauteiloberfläche aus, erzeugen sie eine Gleitstufe. Tritt eine entgegengesetzte Belastungen auf, können weitere Versetzungen angesprochen werden, die in entgegengesetzter Richtung (auch auf parallelen Ebenen) abgleiten. Es bilden sich dadurch Intrusionen und Extrusionen.

bildung_intrusion_extrusion

Mit zunehmender Schwingspielzahl, nimmt deren Anzahl zu und es bilden sich in Richtung der größten Schubspannung Gleitbänder. Diese Gleitbänder bilden Risskeime, von denen sich Mikrorisse bilden können.

Gleitbänder bilden sich gerne an Schwachstellen des Produktes. Das sind häufig Spannungskonzentrationen beispielsweise an Kerben, nichtmetallische Einschlüssen (ab ca. 10..100 µm) oder bereits vorhandenen Rissen.

An die Bildung des Gleitbandes schließt sich mit zunehmender Schwingspielzahl das Anwachsen des Mikrorisses bis zum Makroriss an. Der Makroriss ist dadurch gekennzeichnet, dass er senkrecht zur größten Normalspannung wächst. Der Makroriss wird dann solange weiterwachsen, bis der Restquerschnitt nicht mehr in der Lage ist die Last zu übertragen. Das Wachstum des Makrorisses endet dann im Restgewaltbruch, bei dem das Bauteil quasi schlagartig versagt.

rissentstehung

Risse, die eine Risstiefe erreichen, welche zerstörungsfrei nachgewiesen werden kann, bezeichnet man als technischen Anriss. Typischerweise ist dies bei Risslängen von etwa 1 mm der Fall.

Das zyklische Spannungs-Dehnungs-Diagramm

Um auf die örtlichen Beanspruchungen bei zyklischer Last schließen zu können, muss die Werkstofffließkurve in Form der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve bekannt sein.

zyklisches_spannungs_dehnungs_diagramm

Bei einer Stabilisierung des zyklischen Verformungsverhaltens kann der Zusammenhang zwischen der Spannungsamplitude und der Gesamt-Dehnungsamplitude bestimmt werden. Dazu werden bei der halben Anrisszyklenzahl die Gesamt-Dehnungsamplitude und die entsprechende Spannungsamplitude ermittelt. Mehrere in einem Diagramm aufgetragene Wertepaare (Gesamt-Dehnungsamplitude und zugehörige Spannungsamplitude) ergeben das zyklische Spannungs-Dehnungs-Diagramm. Für zyklisch verfestigende Werkstoffe liegt das zyklische Spannungs-Dehnungs-Diagramm über dem zügigen Spannungs-Dehnungs-Diagramm, für entfestigende Werkstoffe darunter.

Für deren rechnerische Beschreibung schlagen Ramberg-Osgood [9] vor, die Gesamt-Dehnungsamplitude als Addition aus elastischer und plastischer Dehnungsamplitude mit

ramberg-osgood
zu beschreiben. Dabei

ist  E der E-Modul, K' der zyklische Verfestigungskoeffizient und n' der zyklische Verfestigungsexponent.

zyklische_spannungs_dehnungskurve_ramberg_osgood

Sowohl der zyklische Verfestigungskoeffizient, als auch der zyklische Verfestigungsexponent  können rechnerisch aus der Zugfestigkeit Rm mit Hilfe des Uniform-Material Law abgeschätzt werden. Zusätzlich sind unter finden Sie hier weitere Links zu Werkstoffdaten übersichtlich zusammengestellt.

uniform_material_law

Festigkeitsnachweise im High Cycle Fatigue (HCF) und Dauerfestigkeitsnachweise werden unter der Annahme von linearelastischem Werkstoffverhalten geführt. Plastifizierungen werden somit vernachlässigt. Nur beim Festigkeitsnachweis im Low Cycle Fatigue (LCF) werden die Plastifizierungen berücksichtigt und das zyklische Spannungsdehnungsdiagramm als Werkstoffgesetz verwendet.

Auf den Punkt:

  • Auch bei Spannungen deutlich unterhalb der Streckgrenze können Werkstoffe geschädigt werden, wenn die Spannungen wiederholend aufgebracht werden.
  • eine Beschreibung des zyklischen Werkstoffverhaltens ist mit dem zyklsichen Spannungs-Dehnungs-Diagramm nach Ramberg-Osgood möglich
  • Kennwerte für das zyklische Spannungs-Dehnungsdiagramm finden sich im Uniform Material Law, und können über die Zugfestigkeit abgeschätz werden.
  • Üblicherweise kann man Plastifizierungen vernachlässigen (und linearelastisch rechnen), wenn beispielsweise nach der FKM Richtlinie gerechnet wird.
Bildquelle: Pixabay (bearbeitet), Lizenz: CC0 1.0
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