Entlastungskerbe: Mythos oder Wirklichkeit?

Entlastungskerbe: Mythos oder Wirklichkeit?

Kerben schwächen immer das Bauteil. Angeblich ist es aber möglich mit Entlastungskerben die Beanspruchung im Bauteil zu verringern. Mythos oder Wirklichkeit – was wirklich dahinter steckt decken wir in diesem Beitrag auf.

Grundlagen Kerbwirkung

Zunächst einige Grundlagen zur Kerbwirkung. Die Beanspruchung (Spannungen und Dehnungen) im Werkstoff wird üblicherweise linearelastisch berechnet. Allgemein gilt, dass die Beanspruchung (Spannung) von der Belastung, dem Werkstoffverhalten und der Geometrie abhängt. Für den ungekerbten zylindrischen Stab unter Zugbelastung hängt die Spannung σ (Beanspruchung) von der Kraft F (Belastung) und der Querschnittsfläche A (Geometrie) ab. Bauteile weisen üblicherweise noch Kerben wie z.B. eine Verjüngung des Querschnitts, Bohrungen oder Einschnitte auf. Daraus folgt der Kerbeinfluss.

Aus dem Kerbeinfluss resultieren Kerbspannungen σmax. Dies sind lokale Spannungsüberhöhungen im Bauteil. Sie können unterschiedliche Ursachen haben. Nach folgender Abbildung werden drei Arten unterschieden. Bei der Bauteilauslegung müssen alle Arten berücksichtigt werden.

Unterschiedliche Arten von Kerben schematisch dargestellt

Die äußeren Kerben

resultieren z.B. aus Verjüngungen des Bauteils. Diese Verjüngungen (Kerben) stören den gleichmäßigen Kraftfluss im Bauteil und führen zu einer Spannungskonzentration in der Kerbe. D.h. sie sind um Formzahl   gegenüber den Nennspannungen erhöht.

Bei inneren Kerben

handelt es sich weitgehend um Fehler in Bauteilen, an denen sich Spannungen konzentrieren. Dies können Fertigungsfehler wie Lunker oder Einschlüsse sein. Auch Risse zählen dazu. Bei Bauteilen, die auf Druck belastet sind (z.B. Kugellager), können sich Spannungen ebenfalls im Bauteilinneren konzentrieren.

Fügestellen

wie Schweißnähte oder auch Kontaktstellen oder Krafteinleitungsstellen können zu einer Spannungsüberhöhung fürhen.

Über die Formzahl Kt wird die Spannungsüberhöhung des gekerbten Bauteiles gegenüber dem ungekerbten (fiktiven) Bauteil beschrieben. Je größer die Formzahl, umso schärfer ist die Kerbe. Bei der Berechnung der Kerbspannungen geht man nach in zwei Schritten vor:

Berechnung der Nennspannungen σnenn unter Vernachlässigung der Kerbe (z.B. für den zylindrischen Zugstab:
σnenn= F / A

Berechnung der Kerbspannungen mit Hilfe der Formzahl:
σmax=Kt * σnenn

Bei der Formzahl handelt es sich um eine von der Geometrie und Belastung abhängige Größe. Werte für die Formzahlen können Formzahldiagrammen entnommen werden (auf der Homepage der Hochschule Esslingen). Formzahlen nehmen typischerweise Werte von Kt = 1..5 an, setzen also die Bauteilfestigkeit um den Faktor 1…5 herab!

Fazit zu Kerben:

  • Kerben erhöhen immer die Spannungen im Bauteil gegenber dem Bauteil ohne Kerben
  • Kerben sind soweit wie möglich zu vermeiden
  • Es kann sogar sein, dass sich Kerben so stark auswirken, dass selbst der Einsatz höherfester Werkstoffe die Bauteilfestigkeit nicht weiter erhöht (dies habe ich hier näher beschrieben)

Entlastungskerben

Um es vorweg zu nehmen: Entlastungskerben sind kein Mythos;)

Bei Entlastungskerben handelt es sich weiterhin um Kerben. Es gilt damit das oben gesagte uneingeschränkt. Um den Effekt von Kerben besser zu verstehen, bietet sich das Modell des Kraftflusses an. Danach wird der Kraftfluss im Bauteil mit einer Rohrströmung verglichen (siehe folgende Abbildung).

In einem Rohr mit einer Querschnittsverjüngung wird an der engsten Stelle die Strömungsgeschwindigkeit steigen. Analog dazu konzentriert sich die Belastung in einem Bauteil an einer Kerbstelle (oberes Bild in unterer Abbildung). Allerdings ist es möglich, durch das geschickte einbringen zusätzlicher Kerben den Kraftfluss im Bauteil „sanfter“ zu gestalten (mittleres Bild in unterer Abbildung).

Einfluss von Entlastungskerben auf den Kraftfluss

Wichtig ist, dass dieses Vorgehen nicht umsonst ist. Der Preis der zu bezahlen ist, liegt darin, dass andere Bereiche des Bauteiles stärker an der Lastübertragung beteiligt werden. An diesen Bereichen steigt die Spannung. Bei der Bauteilauslegung muss somit darauf geachtet werden, dass diese Bereiche nicht kritisch werden.

Sinn macht es immer dann über Entlastungskerben nachzudenken, wenn die „Hauptkerbe“ nicht vermeidbar ist. Dies kann bei z.B. Sicherungsringnutzen, Passfedern oder auch scharfen Wellenabsetzen (Kugellagersitze) der Fall sein. Allerdings wird dadurch die Bauteilauslegung deutlich komplizierter.

Zur Erinnerung: Üblicherweise setzen Kerben die Belastung des Bauteiles um den Faktor 1…5 herab!

Besser ist es deswegen immer Kerben so gut es geht zu vermeiden oder zu minimieren. Besonders wichtig ist es, die Überlagerung unterschiedlicher Kerbarten zu vermeiden. Liegen beispielsweise Lunker (also Innere Kerben) im Einflussbereich äußerer Kerben, können sich beide Effekte verstärken. Dies ist sozusagen „Öl ins Feuer giessen“. Möglich ist dies durch fertigungsgerechte Konstruktionen.

Auf den Punkt:

  • Nutzen Sie Entlastungskerben immer dann, wenn die „Hauptkerbe“ nicht vermeidbar ist
  • Versuchen Sie so gut es geht Kerben zu vermeiden oder zu minimieren (keine Kerbe ist die beste Kerbe;)
  • Verhindern Sie unbedingt die Überlagerung mehrerer Kerbarten an einer Stelle im Bauteil
Bildquelle: Pixabay (bearbeitet), Lizenz: CC0 1.0
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