Warum hochfeste Werkstoffe nicht die Lösung von Festigkeitsproblemen sind, und welche Alternativen es gibt.

Mit steigender Festigkeit (Zugfestigkeit) steigt auch die Schwingfestigkeit (Dauerfestigkeit) des Werkstoffes. Der Zusamenhang ist proportional. Insofern liegt es nahe, dass Festigkeitsprobleme durch Werkstoffe höherer Zugfestigkeiten gelöst werden. Erfahren Sie, warum dies nicht immer so ist und was besser getan werden sollte.

Einflüsse auf die (Bauteil-)Dauerfestigkeit

Es ist die Dauerfestigkeit des Werkstoffes σW proportional zur Zugfestigkeit Rm.
Für Einsatzstähle gilt: σW= 0,4 * Rm.

Die Dauerfestigkeit eines Bauteiles σB hängt neben der Dauerfestigkeit des Werkstoffes noch von vielen anderen Bauteilfaktoren ab. Sie unterscheidet sich damit signifikant von der Festigkeit des Werkstoffes. Es ist außerdem die Bauteilfestigkeit geringer als die Werkstofffestigkeit. Jeder einzelne der Einflüsse reduziert die Werkstofffestigkeit um einen Abminderungs-Faktor. Wesentliche Einflüsse sind:

  • Kerben mindern die Festigkeit um den Faktor Kt=1..5,
  • Oberflächenrauhigkeiten reduzieren die Festigkeit um den Faktor FO=~1,3,
  • Hohe (Zug-)Mittelspannungen erniedrigen die Festigkeit um den Faktor FM=~ 1..2,
  • Hohe Temperaturen (150..500°C) senken die Festigkeit um den Faktor FT=~ 1..2,
  • Korrosive Umgebungen (z.B. Salzwasser) mindern die Festigkeit um den Faktor FK=~2.

Es berechnet sich damit die Dauerfestigkeit eines Bauteiles σB abhängig von den Bauteileinflüssen und der Dauerfestigkeit des Werkstoffes σw:
σB = σW / (Kt*FO*FM*FT*FK)

Viele dieser Bauteileinflüsse sind zusätzlich noch abhängig von der Zugfestigkeit des Werkstoffes. Je höher die Festigkeit des Werkstoffes ist, umso stärker wirken sich z.B. Kerben festigkeitsmindernd aus. Die Ursache liegt darin, dass mit zunehmender Festigkeit der Werkstoff immer spröder wird (die Härte steigt). Bei steigender Sprödigkeit wird ein Werkstoff aber immer Anfälliger gegenüber vieler der oben genannten Einflüsse.

Dazu ein Beispiel aus dem Alltag:
Gläser sind sehr spröde, bereits relativ geringe punktuelle Lasten führen direkt zum Bruch des Glases. Punktuelle Lasten können hier z.B. ein Steinschlag sein. Kunststoffgläser hingegen sind gegenüber Steinschlägen relativ unempfindlich. Allerdings sind sie wegen ihrer geringen Härte sehr empfindlich in Bezug auf Kratzer.

Einfluss der Zugfestigkeit auf die (Bauteil-)Dauerfestigkeit

Nehmen wir einen fiktiven Stahl mit einer Zugfestigkeit von 400 MPa. Um ein Bauteil aus diesem Werkstoff für höhere Belastungen zuzulassen, soll ein Werkstoff mit 50% höherer Zugfestigkeit eingesetzt werden.

Wegen der Proportionalität zwischen Zugfestigkeit und Dauerfestigkeit des Werkstoffes steigt auch die Dauerfestigkeit des Werkstoffes um 50%.

Wie verhält sich das für ein Bauteil?
Am Beispiel der Oberflächenrauhigkeiten soll dies erklärt werden. Für einen Werkstoff mit einer Zugfestigkeit von 400 MPa reduziert sich die Dauerfestigkeit bei einer Oberflächenrauhigkeit von Rt= 12,5 µm um den Faktor FO=1,05, also  ≈ 5 % (genau: (1- 1/1,05) = 4,8%).  Die Dauerfestigkeit ist dann σB1 = σW / FO = 400/1,05 = 380MPa.

Je spröder der Werkstoff wird, umso sensibler reagiert er auf Oberflächenrauhigkeiten. Im vorliegenden Beispiel steigt der festigkeitsmindernde Faktor auf FO=1,18, also ≈ 15% (genau: (1- 1/1,18) = 15,25%), wenn die Zugfestigkeit auf 600 MPa erhöht wird. Die Dauerfestigkeit ist dann σB2 = σW / FO = 600/1,18 = 508MPa.

D.h. von den 50% Gewinn der Werkstoffdauerfestigkeit durch die Erhöhung der Zugfestigkeit bleiben „nur“ 33% übrig (1 - σB2 / σB1 = 1 -508MPa / 380MPa = 33%). Gleichzeitig steigen aber auch noch die festigkeitsmindernden Einflüsse durch Kerben und Mittelspannung.
Es bleibt nicht viel übrig!

Maßnahmen zur Steigerung der Dauerfestigkeit

Es ist immer sinnvoller vor allem die festigkeitsmindernden Einflüsse zu minimieren. Diese Änderungen sind außerdem oftmals kostenneutral möglich, haben also einen besonderen Charme. Kerben haben hier fast immer den größten Einfluss auf die Festigkeit. Scharfe Kerben können die Festigkeit locker um den Faktor 3..5 senken! Können Sie den Kerbeinfluss durch größere Radien oder ein lastoptimiertes Design auf den Faktor 2 senken, steigt die Festigkeit „automatisch“ um den Faktor ~2. Und das ohne Zusatzkosten!

Auch das Vermeiden oder minimieren von Zug-Mittelspannungen erhöht die Festigkeit deutlich. Werkstoffe ertragen deutlich höher Druckbelastungen!

Erst, wenn die festigkeitsmindernden Faktoren so klein wie möglich sind, lohnt sich der Einsatz höherfester Werkstoffe.

Auf den Punkt

Es ist besser erst die festigkeitsmindernden Einflüsse zu beeinflussen und zu senken und dann die Festigkeit des Werkstoffes zu erhöhen.
Insbesondere Kerben sind der Tod der Bauteile!

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Bildquelle: Pixabay (bearbeitet), Lizenz: CC0 1.0

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Veröffentlicht in Betriebsfestigkeit, Dauerfestigkeit, Wöhlerkurve und verschlagwortet mit , .

4 Kommentare

  1. Vielen Dank für das anschauliche Beispiel.

    im Abschnitt “Wie verhält sich das für ein Bauteil?” ist ein Rechenfehler.
    Statt ” (genau: (1- 1/1,05) = 0,48%)” sollte da (genau: (1- 1/1,05) = 4,8%).

    • Hallo Matthias Grütters,

      vielen Dank für den Hinweis und das nette Feedback!
      Ich hoffe, dass ich helfen konnte.
      Den Fehler habe ich gerne korrigiert!

      Ihnen schöne Grüße,

      Stefan Einbock

    • Hallo Hr. Bartschneider,

      vielen Dank für die netten Worte! Es freut mich, dass ich helfen kann!
      Falls Sie einmal Fragen haben, einfach melden.

      schöne Grüße

      Stefan Einbock

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